Rudolf Steiner (1861-1925): Niemals Mitglied irgendeines O.T.O.
Peter-Robert König
Aufgrund jahrzehntelanger Medienberichte über Steiners angebliche
Zugehörigkeit zum Theodor Reuss'schen Ordo Templi Orientis (O.T.O.) sei
hiermit auf die faktische Lage hingewiesen.
Es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dass Rudolf Steiner
irgendetwas anderes von Theodor Reuss (dem Gründer des O.T.O.)
akzeptiert hätte, ausser dessen Bewilligung, den parafreimaurerischen
Begriff "Misraim" verwenden zu dürfen. Es gibt keinen einzigen
schriftlichen Beweis dafür, dass Reuss den Steiner zum O.T.O.-
Mitglied, geschweige denn zum Leiter eines O.T.O.-Zweiges, gemacht
hätte.
Im folgenden Artikel werden kurze historische Hintergründe einiger
Spezialbegriffe wie "Memphis-Misraim", "Ordo Templi Orientis",
sowie Informationen zu einigen Protagonisten gegeben, die den
Umkreis des Hauptthemas "Rudolf Steiner niemals Mitglied
irgendeines O.T.O." zeichnen sollen. Einige der nun folgenden
Begriffe mögen dem Leser verwirrlich erscheinen. Jeder, der sich
mit den Hintergründen beschäftigen möchte, sei auf meine Bücher
hingewiesen.
Das letzte hier vorgestellte Kapitel "Diskussion" will
stichwortartige Denkanstösse vermitteln zur Mutmassung, ob die
Anthroposophie oder Rudolf Steiners Lehren irgendwelche
Aehnlichkeiten mit denjenigen des O.T.O. oder Theodor Reuss
aufweisen könnten. Im historischen Kontext sind solche Fragen erst
Jahrzehnte im Nachhinein gewachsen, genährt von Falschmeldungen
und unrecherchierten Meinungen.
Der Alte und Angenommene Schottische Ritus
Aus einem Gewirr von Riten und Graden einigen sich ein paar "echte
alte Freimaurer" 1802 in Charleston auf den Begriff "Schottische
Freimaurerei" oder "Alte und Angenommene Schottische Ritus" (AASR)
mit 30 Graden.
Der Ritus von Memphis-Misraim
Angeblich wird der Aegyptische Ritus von Mizraim (oder Misraim, 90
Grade) 1805 in Mailand gegründet. Seine Schöpfer bezeichnen ihn
als Wurzel und Ursprung aller freimaurerischer Riten und der
Geheimlehre von Isis und Osiris, die von Misraim, dem Sohn Hams
und Enkel von Noah ins Leben gerufen worden seien, und dessen
Weisheit auf Adam selbst zurückgehe.
Als Konkurrenz zum Misraim-Ritus wird in Paris 1814 der Ägyptische
oder Memphis-Ritus (95/97 Grade) gegründet, der angeblich von
griechischen Eingeweihten nach Kleinasien gebracht worden sein
soll. Vereinigt mit christlichen Lehren der Rosenkreuzerei soll
der Orden durch die Kreuzfahrer nach Schottland gelangt sein und
als Grossloge von Edinburg zur Wiege der Freimaurerei geworden
sein. Der Memphis-Ritus wird auch "Antient and Primitive Rite of
Masonry" oder sogar "Orientalischer Orden von Memphis" genannt.
Am 4. Juni 1872 kauft John Yarker die Erlaubnis, den Memphis-Ritus
in England zu errichten. Unter seiner Leitung kommen nun 1876
Memphis und Misraim [MM] zusammen. Am 24.9.1902 will Theodor Reuss
von John Yarker die Bewilligung erworben haben, den Schottischen
Ritus (AASR, Cerneau, New York 1807) (33 Grade) und den Memphis-
Misraim-Ritus (90 und 97 Grade) in Deutschland zu konstituieren.
Die vorliegenden Originalunterlagen weisen jedoch keinen
entsprechenden Wortlaut auf: Obwohl Reuss in seiner Zeitschrift
"Oriflamme" (Dezember 1902) eine Bewilligung für den Memphis-
Misraim-Ritus (Grade 33°, 90°, 96°) zitiert, erwähnt die
tatsächlich vorliegende Charter nur die Grade 30°-33° [Cerneau,
ohne MM] für Reuss. Reuss glaubt nun das Recht zu haben, reguläre
Freimaurer durch seine Ordens-Sammlung ernennen zu können. Er wird ab
1906 den O.T.O. als Retortenhochgradorden aus einigen Graden des
A.A.S.R. und MM zusammenbasteln.
Vorgeschichte zu Rudolf Steiner
Die Theosophical Society ist 1875 von H.P. Blavatsky, H.S. Olcott,
W.Q. Judge, John Yarker u.a. gegründet worden. Nach Blavatsky's
Tod, 1891, ist die T.S. zersplittert und besteht 1900 aus drei
konkurrierenden Gesellschaften.
Im Herbst 1900 wird Rudolf Steiner von der Gräfin Brockdorff um
zwei Vorträge im Rahmen der allgemeinen kulturellen
Veranstaltungen in der Theosophischen Bibliothek gebeten. Daraus
entstehen Vortragszyklen in den Winterhalbjahren 1900/01 und
1901/02 in dieser Bibliothek. Dies führt dazu, dass am 20.10.1902
die Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft (Adyar) mit
etwas über 100 Mitgliedern und mit Rudolf Steiner als
Generalsekretär konstituiert wird.
1904 beginnt Steiner, seine Esoterische Schule aufzubauen. Dazu
lässt er sich am 10.5.1904 von der damaligen Leiterin der Esoteric
School of Theosophy, Annie Besant, als Landesleiter der E.S. für
Deutschland und Oesterreich einsetzen. Diese E.S. ist 1888 von
H.P. Blavatsky organisatorisch unabhängig von der T.S.
eingerichtet worden.
Zum Aufbau seiner E.S. will Steiner im Gebote nach "absoluter
Wahrhaftigkeit und Aufrechterhaltung der Kontinuität" auch an
symbolisch-rituelles Wirken, d.h. an maurerische Traditionen, "an
schon Bestehendes" anknüpfen. So besteht die Steinersche E.S. bald
- wie in der Theosophischen Gesellschaft - aus drei Abteilungen.
(1) der Esoteric School of Theosophy, (2) dem Misraim-Dienst und
(3) aus einem gescheiterten Versuch, mit 12 "bewährten Schülern"
eine Gesellschaft für theosophische Art und Kunst zu gründen.
Rudolf Steiner, Theodor Reuss und die Entwicklung des O.T.O.
Wann der erste Kontakt zwischen Steiner und Reuss stattgefunden
hat, ist schwer zu datieren. In einem Vortrag über die Geschichte
der Freimaurerei in Berlin am 9.12.1904 zitiert Rudolf Steiner das
Carl Kellner/Theodor Reuss-Manifesto aus Reuss' Oriflamme 1904 (in: Steiner:
"Die Tempellegende und die Goldene Legende", = Gesamt-Ausgabe [GA]
Band 93, 91 ff.). (Reuss' Oriflamme Nr. 6 von 1903 enthält eine
frühe Version dieses Manifests.) Dieses kann jedoch auf keinen
Falls als O.T.O.-Manifest umdefiniert werden, da der O.T.O. um
diese Zeit noch gar nicht existiert. Es gibt keinen einzigen Beleg
dafür, dass Carl Kellner (der angebliche ideelle "Gründer" der
O.T.O.-Idee) den Begriff "O.T.O." gekannt, geschweige denn benützt
hat. Kellner leitet wahrscheinlich eine deutschsprachige lose
Gruppe der "Hermetic Brotherhood of Light", die er als einer der
12 Neugründer in Boston/Chigaco 1895 nach Europa gebracht haben
könnte.
Reuss und Kellner scheinen aufgrund verschiedener Ansichten über
Yoga schon zerstritten. Franz Hartmann [Leiter der Leipziger
"Internationalen Theosophischen Verbrüderung"] denkt ähnlich: dass
sein Freund Kellner Betrügern (Yogis) in die Hände gefallen sei
[Theosophische Rundschau, XII;6, 1924] und hält eh nichts von den
Praktiken der "Hermetic Brotherhood of Light"; zusätzlich
distanziert sich Hartmann ebenfalls ca. 1904 von Reuss. Es
scheint, dass Reuss allein für die nach aussen wirkenden
Aktivitäten seiner Ordens-Sammlung und den in seiner
Publikationsreihe "Oriflamme" veröffentlichten Berichte
verantwortlich ist, die natürlich nach wie vor Kellner und
Hartmann erwähnen.
7. Juni 1905: Ehren-General-Grossmeister Carl Kellner, 33°, 90°,
96°, und "Leiter" des "Inneren Dreiecks", des "occulten Kreises"
bestehend aus Hartmann, Reuss, Kellner, stirbt.
24. Juni 1905: John Yarker, 33°, 90°, 96°, erteilt Reuss, 33°,
96°, Franz Hartmann, 33°, 95°, und Heinrich Klein, 33°, 95°, die
Bewilligung, die Grade vom ersten bis 33°, 90° und 95° zu
bearbeiten. Am selben Tag ergeht eine Charter von Yarker und Reuss
an Paul Eberhardt. [Yarker scheint vom Zwist zwischen Hartmann und
Reuss nichts zu ahnen]. Im August wird Reuss von den Swedenborg
Ritus-Gründungsmitgliedern vor Gericht angeklagt, 1902 die
Ordenszeitschrift "Oriflamme" als reine Privatsache Reuss' (d.h.
Reuss' MM ist unabhängig von seinen anderen Orden) ins Leben
gerufen zu haben.
24. November 1905: Steiner und Marie von Sivers bezahlen für ihre
MM-Mitgliedschaft unter Reuss je 45 Mark. Die Verhandlungen über
die Modalitäten zur Führung eines selbständigen Arbeitskreises
ziehen sich noch dahin. Tags darauf, am 25.11.1905, schreibt
Steiner an Frau von Sivers: "Nun hast Du gestern selbst gesehen,
wie wenig noch übrig geblieben ist von den einstigen esoterischen
Institutionen" und denkt daran, sich des Mediums der Religion "in
sinnlich-schöner Form" zu bedienen: Religion als "Folgeerlebnis
von Wissenschaft und Kunst". [Nichtsdestotrotz ist die 1912
entstandene Anthroposophische Gesellschaft keineswegs als
religiöse Körperschaft anzusehen, etwas das gegen die Ansichten
Steiners geht, sondern als Körperschaft von Gedanken/Ideen.]
30.11.1905, Steiner an von Sivers: "Reuss ist kein Mensch, auf den
irgendwie zu bauen wäre ... Wir haben es mit "einem Rahmen", nicht
mit mehr in der Wirklichkeit zu tun. Augenblicklich steckt gar
nichts hinter der Sache. Die okkulten Mächte haben sich GANZ davon
zurückgezogen."
2.1.1906: Im Zusammenhang mit der Loge hält Steiner erstmals einen
Vortrag vor Männern und Frauen gemeinsam und bezeichnet die
Freimaurerei (womit er wahrscheinlich den von vielen als irregulär
betrachteten AASR- und MM-Ritus meint) als "eine Karikatur" und
offfenbart, dass die "in ihr schlummernden Kräfte wieder
aufzuwecken", eine Arbeit sei, "die uns obliegt". Steiner sieht es
als seine "Aufgabe, den Misraim-Dienst für die Zukunft zu retten."
Der Misraim-Dienst soll Irdisches mit dem Himmlischen, Sichtbares
mit dem Unsichtbaren vereinigen und die Eleusinischen Mysterien
wieder erneuern.
3. Januar 1906: Reuss unterzeichnet einen "Vertrag und
brüderliches Uebereinkommen" zwischen ihm und Steiner, was diesen
zum 30°, 67° und 89° von Berlin macht. Für die Aufnahme von Frauen
wird Marie von Sivers autorisiert. "Die Auswüchse der Männerkultur
müssen zurückgestaut werden durch die okkulten Kräfte der Frau"
(so Steiner).
Am 8. Januar 1906 reist Reuss nach London, wo er eine "Hermetic
School of Science" aufzuziehen gedenkt. Ihm folgt der Geruch der
Ordenserfinderei und des schwunghaften Charta-Verkaufs. In
Freimaurerkreisen gilt Reuss als Schwindler. Um diese Zeit
kursieren Gerüchte um sein angebliches unsittliches Verhalten.
22. Januar 1906 ist das Datum, das die erste (englische) O.T.O.-
Konstitution aufweist, die anscheinend erst 1912 allgemein bekannt
wird. Emil Adryiani und Paul Eberhardt, beides Hochgradinhaber des
MM, halten 1906 als Gründungsdatum des O.T.O. für vordatiert. Die
Konstitution verlangt von künftigen Mitgliedern ein schriftliches
Aufnahmegesuch. Es scheint (zumindest im Nachhinein), dass sich
der O.T.O. nun aus einigen AASR- und Memphis-Misraim-Graden zu
entwickeln beginnt.
17. März 1906: Reuss nimmt in einem Schreiben an Franz Hartmann
an, dass dieser kein Mitglied mehr von Reuss' MM sei, da Hartmann
seit langem nicht mehr auf Reuss' Briefe und Postkarten reagiert
habe, und ausserdem überall herumerzähle, dass Reuss keine
diesbezüglichen Rechte mehr besässe. Aehnlich äussert sich Reuss
am 27. März 1906: dass Emil Adrianyi ebenfalls die "falsche
Nachricht" verbreite, der Grossorient und das Souveräne
Sanktuarium von Berlin existierten nicht mehr.
Am 27. März 1906 erhält Steiner einen Brief von Reuss, in dem er
als 33° (AASR) und 95° (Misraim) angesprochen wird.
Die Reuss'sche Oriflamme vom Januar/Juni 1906 teilt mit, dass
Steiner, 33°, 95°, in Berlin die Erlaubnis erteilt worden ist, ein
Kapitel und einen Grossrat der Adoptionsmauererei [MM] unter dem
Namen "Mystica aeterna" zu gründen. Steiner wird zum
stellvertretenden Grossmeister mit Jurisdiktion über die von ihm
aufgenommenen Mitglieder ernannt. Marie von Sivers wird als
General-Grosssekretärin für die Adoptionslogen eingesetzt. Steiner
verwendet für diese Gruppierung auch "Mystica Eterna" (M.E.) oder
"Misraim Dienst" (M.D.). Je nach dem Kontext bezeichnen diese
Abkürzungen entweder die Einrichtung oder deren Inhalt.
Beide, Reuss und Steiner, benutzen die freimaurerischen Begriffe
"Royal Arch" und "Ritter vom Adler und Pelikan" (GA 265, 75, 217,
218; GA 93, 90, 93 und 320). Die neun (zehn) O.T.O.-Grade sind
inhaltlich keinesfalls das Vorbild der z.T. theoretischen neun
Grade der Mystica aeterna (in der nur bis zum 5. Grad gearbeitet
wird: Lehrling, Geselle, Meister, Royal Arch, Ritter vom Adler und
vom Pelikan. GA 265, 237, 217, 218) (GA 167, 94; GA 265, 132). Die
Intentionen und Inhalte der Steinerschen Rituale entstammen allein
seiner eigenen Erkenntnis/Schau: nur die Form bezieht sich auf
Traditionelles. Trotzdem ist die Mystica aeterna keine eigentliche
Organisation, vergleichbar mit einem Orden oder einer Loge (obwohl
Steiner diesen Begriff in der Lektionsstunde vom 28.10.1911
verwendet); es gibt keine Tochtergründungen, keine Diplome, keine
Ermächtigungen und der Kultus wird nur in Anwesenheit Steiners
zelebriert und nur von und für Mitglieder(n) der Theosophischen
Gesellschaft. In Steiners Schau kann ein äusserer Orden weder von
"Meistern" gegründet, noch mentoriert werden. Dies steht allein
der "Esoterischen Schule" zu. Die Mystica aeterna gilt als die
zweite, als die sog. "Erkenntniskultische" Abteilung in Steiners
Esoterischer Schule. Die Theosophische Abteilung weist mehr auf
die ideelle und studierende Seite hin; die maurerisch-kultische
mehr auf die praktische Seite des Esoterischen Arbeitskreises.
21. Juni 1906 ist das Datum, das die erste deutsche O.T.O.-
Konstitution aufweist. Wie schon zur englischen O.T.O.-
Konstitution vom Januar angemerkt, scheint es, dass die Gründung
des O.T.O. erst 1912 allgemein bekannt wird. Diese deutsche
Konstitution verlangt von künftigen Mitgliedern ebenfalls ein
schriftliches Aufnahmegesuch.
24. Juni 1906: Da sich abzeichnet, dass sich in Steiners Mystica
aeterna bald mehr Mitglieder als in Reuss' Orden listen lassen,
spaltet Reuss Memphis von Misraim und vom 33° und signiert die
entsprechende Verkündigung u.a. mit dem Ausdruck "Orientalische
Templer-Freimaurer" und verwendet dabei die Templer-Zeitrechnung
("A.O. 788").
15.8.1906: Steiner distanziert sich in einem Brief an A.W. Sellin
klar und deutlich von Reuss und all dessen Aktivitäten (sofern er
überhaupt davon Notiz genommen hat). "Reuss ist kein Mensch, auf
den irgendwie zu bauen wäre." (30.11.1905). Für Steiner spielt die
Person "Reuss" keine Rolle, sondern allein dessen Vermittlung des
"Misraim"-Ritus, d.h. einer formal-historisch-legal dokumentierten
Anknüpfung, um eine selbständige symbolisch-kultische Neugründung
einzurichten. In Reuss' Briefen an Steiner und an von Sivers gibt
Reuss keine einzige Bestätigung eines Gesprächs mit oder eines
Schreibens von Steiner. Steiner macht es "zur Bedingung, dass der
Orden [AASR + MM] mir NICHTS mitteilt von seinen Ritualien." "Ich
konstituierte, was zu konstituieren war, OHNE dass Herr Reuss
jemals dabei — bei irgend etwas — gewesen wäre ... Ich aber habe
sachlich den Orden [Reuss' AASR und MM] völlig IGNORIERT" (Steiner
an Sellin, 15.8.1906). Mitgliedern von Reuss' Orden wird der
Zutritt zu Steiners Misraim-Dienst verwehrt.
Am 22.9.1906 beklagt sich Reuss bei Marie von Sivers, dass Rudolf
Steiner ihm auf seinen Brief von vor vier Wochen nicht geantwortet
habe.
1.10.1906, 9.2.1907 und 12.3.1907: Reuss bittet vergeblich
um ein Treffen mit Steiner. Im Schreiben vom 9.2.1907 an von
Sivers bestätigt Reuss, dass kein brieflicher Verkehr zwischen ihm
und Steiner stattfinde, und dass er dies auch akzeptiere.
Pfingsten 1907: Nach dem Tode des Gründer-Präsidenten der
Theosophical Society, H.S. Olcott, 17.2.1907, und der Wahl von
Annie Besant zur neuen Präsidentin, löst Rudolf Steiner die erste
Abteilung der Esoterischen Schule aus dem formalen Zusammenhang
mit der von Annie Besant geleiteten Esoteric School of Theosophy:
Steiner verfolgt ein anderes Schulungs-System und wirft Annie
Besant gleichzeitig Amerikanismus, d.h. Weltlichkeit und
anderseits Fixierung auf indische Traditionen, die im Westen keine
Wirkung hätten, vor. In Steiners Schau wird der Atem nicht durch
körperliche Uebungen kontrolliert; die physischen Effekte sind
Konsequenz der Einweihung. Steiners Weg ist das Gegenteil dessen,
was die alten Yogis lehrten, indem er Denken und Atmen miteinander
verbindet.
15. Juni 1907: Reuss schickt Steiner ein Edikt, das diesen zum
33°, 90° und 96° von Berlin und selbstständigen amtierenden
General Grossmeister des Obersten General Grossrates des Mizraim-
Ritus in Deutschland ernennt. Der Briefkopf weist die Begriffe
"Memphis and Mizraim Rite of Masonry. Order of Oriental Templars
and Esoteric Rosicrucians" auf. Reuss zeichnet u.a. mit der
SO.T.O.M-Rune/Siegel. Dies macht Steiner jedoch weder zum O.T.O.-
Mitglied noch zu dessen Grossmeister von Berlin. Reuss bezeichnet
sich weiterhin ebenfalls als Grossmeister des Misraim Ritus. Er
sucht ab 1907 mit seinem O.T.O. als "Bund für Internationale
Verbrüderung" Anschluss an ausländische Gnostiker- und
Rosenkreuzerorganisationen (z.B. 1908 an Papus in Frankreich, wo
er auch Arnoldo Krumm-Heller mit Chartas beglückt, die später zur
Gründung der Fraternitas Rosicruciana Antiqua führen; 1909 an
Spencer Lewis, der 1915 den A.M.O.R.C. gründet).
24.2.1908 und 17.7.1909: erneut beklagt sich Reuss, dass ihm
Steiner nie antworte. Dito in 1910. Reuss listet Steiner schon
seit 1906 nie mehr in seinen häufig auftauchenden Ordens-
Schematismen auf.
1909: Steiner wird nicht im Ordens-Schematismus der Oriflamme
aufgeführt.
11.2.1910: Reuss teilt Steiner mit, dass Franz Hartmann schon seit
1904 nicht mehr aktiv sei und ausser Max Heilbronner und Heinrich
Klein kein Mensch von der Angelegenheit Reuss-Steiner wisse.
Im März 1910 wird Aleister Crowley ein VII° O.T.O. in England, was
jedoch nur eine Bestätigung seines 1900 in Mexiko erworbenen 33°
ist. Im November wird Crowleys 33° AASR ebenfalls von John Yarker
reaktiviert, obwohl Yarkers entsprechende Befugnisse schon am
30.11.1870 vom Supreme Council des AASR annulliert worden sind.
21.4.1912: Aleister Crowley wird X° des O.T.O. von England und
Irland.
1.6.1912: offizielles Datum der Gründung einer National-Grossloge
des O.T.O. für Grossbritannien und Irland durch Reuss, was dieser
in der Oriflamme als eine Sache mit pikantem Beigeschmack
bezeichnet. Obwohl nie ein "regulärer" Freimaurer, sieht Crowley
sich von nun an als "sole and supreme authority in Freemasonry".
Die Existenz eines X°-O.T.O. in England ist ein Hinweis darauf,
dass der O.T.O. um 1912 in der Organisation durchaus verschieden
ist vom Memphis-Misraim-Ritus, der in England der Leitung von
Yarker untersteht, von dem Reuss selber seine MM-Legitimation
bezieht.
7.8.1912: Franz Hartmann stirbt.
(Oktober?) 1912: Steiners Name fehlt in der reich bebilderten
"Ahnengalerie" der O.T.O.-Helden in der Jubiläums-Ausgabe der
Oriflamme 1912, in der, posthum natürlich, Carl Kellner und Franz
Hartmann nun erstmals mit den Begriffen "O.T.O." und "Sexualmagie"
in Zusammenhang gebracht werden.
Im Zuge der Krishnamurti-Sache gründet Steiner in Köln zu
Weihnachten 1912 die Anthroposophische Gesellschaft und trennt
sich zur Jahreswende 1912/13 von der TG. Bis anhin konnte er ca.
2500 Mitglieder sammeln. Diesen schliessen sich nun weitere 1000
aus der TG austretende Mitglieder in Europa und Amerika an.
20.3.1913: John Yarker stirbt. Reuss verfasst nun offensichtliche
sexualmagische Texte, die in seiner INRI/Oriflamme-Schriftenreihe
erscheinen. Bei Kriegsausbruch flüchtet er nach Deutschland.
Sommer 1914: Die Veranstaltungen der Esoterischen Schule und des
"Misraim Dienstes" (der 600 Mitglieder zählt) werden eingestellt.
Steiner beendet die privaten Beratungen und Versammlungen, da
inzwischen genügend publiziertes Schulungsmaterial von ihm
vorliegt. Die Kriegsverhältnisse erschweren es, geschlossene
Versammlungen sicher abzuhalten.
Zu Weihnachten 1914 heiratet Steiner Marie von Sivers.
Woran denkt der nun im Tessin in der Schweiz lebende Reuss, als er
1917 in der Bücheranzeige am Schluss der deutschen Publikation von
Crowley-Reuss' "Gnostischer Messe" einen Text "Das Sexuelle in der
Theosophie und Anthroposophie, mit den Gelöbnissen der
verschiedenen Führer" ankündigt?
Im Sommer 1917 schickt Reuss einem offiziellen Vertreter der
Anthroposophischen Gesellschaft eine Einladung zum "Anational
Congress" seines O.T.O. auf dem Monte Verita. Auf dem
entsprechenden Manifesto tritt die Bezeichnung "Ordo Templi
Orientis" nun als Unterbegriff der "Hermetic Brotherhood of Light"
auf. Hinweise in Reuss' und Crowleys "Gnostischer Messe" und in
Reuss' VII°-Ritual deuten darauf hin, dass neuerdings die
Theoretischen Rosenkreuzer der Brüder des Lichtes der sieben
Gemeinden in Asien / die Asiatischen Brüder vom Rosenkreuz
und der mächtige und weise Orden der Ritter und Brüder des Lichts
als Reuss'sche und Crowleysche "Hermetic Brotherhood of Light" zu
interpretieren sind.
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