Carl Kellner Einführung in den Esoterismus unseres Ordens der
A. und A. FreimaurerVon Br.·. Dr. Carl Kellner, 33.°, 90.°,
96.° Berlin, Februar 1903
Der Ritus unseres Ordens ist aufgebaut auf das Wissen: dass die
allgemeine Welt-Energie (die wir in ihren niederen Formen als
Elektrizität, Magnetismus, Licht, Wärme us.w. kennen) sich in ihren
höheren Formen als Liebe, Bewusstsein, Leben, Fortschritt u.s.w
offenbart; dass derjenige Teil dieser einen Energie, der in uns wohnt
und der unsere wahre Persönlichkeit ausmacht, ebenso unzerstörbar ist,
wie jede andere niedrigere Energieform; dass für die höheren
Energieformen ähnliche Gesetze Geltung haben wie die, welche die
niederen beherrschen (Verantwortlichkeit aller vernünftigen Wesen);
dass durch die praktische Anwendung der im Ritus gegebenen
Symbole die unser Sein bedingenden Energieformen weiter erweckt und
entwickelt werden können, so dass wir endlich in den "höheren Graden"
unser besseres und unsterbliches "Selbst" (das "verlorene Wort") schon
in diesem Leben finden.
Dabei sei nun sofort bemerkt, dass wir unter den "höheren Graden", von
denen wir hier sprechen, Entwicklungsstufen und Erkenntnisstufen
verstehen, aber keine Ritual- und Diplom-Grade. Denn ebensowenig wie
ein Meisterschafts-Schwimmer durch ein Diplom oder eine feierliche
Zeremonie zum Meisterschafts-Schwimmer gemacht werden kann, so kann
auch kein Diplom und keine Zeremonie zum "wahren Meister-Maurer"
machen.
Die Königliche Kunst kann überhaupt durch keinerlei geschriebene
Instruktion erlernt werden. Man hat ja genug maur.·. Institutionen und
Anleitungen schon geschrieben. Es giebt auch Anleitungen zur
Oelmalerei, zur Reitkunst. Der aber nicht die Palette und den Pinsel,
beziehungsweise das lebendige Pferd hernimmt, der wird durch diese
Institutionen ebensowenig malen oder reiten lernen, wie er durch die
geschriebenen Anweisungen ein wahrer und echter Freimaurer werden
kann.
Die wahre Freimaurerei kann man nur durch praktischen Unterricht, der
persönlich gegeben werden muss, an sich selbst erlernen.
Dieser praktische Unterricht ist das Geheimnis der "wahren
Freimaurerei". Die Hochgrade sind als die Träger dieses Geheimnisses der
wahren Freimaurerei anzusehen. Denn die sogenannten drei Johannis-Grade
sind heute — so wie sie "gearbeitet" werden — keine Geheimnisse mehr,
weil:
- ohnehin jeder weiss, dass wir alle Brüder sind — ob Graf oder
Arbeiter;
- allen humanitären Bestrebungen ohnehin keinerlei Schranken mehr
gesetzt sind.
Man ist ebensowenig ein wahrer Freimaurer, wenn man nur die Logen
besucht und für den Säckel der Witwe opfert, als man ein wahrer Christ
ist, wenn man in die Kirche läuft und Almosen giebt:
Wir fragen ganz offen:
- Hat die Johannis-Mrei.·. ausser Zeichen, Griff und Wort auch noch
ein anderes Geheimnis?
- Wo sind die Brr.·. Frmr-Meister der Johannisgrade, die ausser
Zeichen, Griff und Wort noch ein Geheimnis kennen?
- Aus welchen Gründen sollen sich denn nach der allgemeinen, von der
Johannis-Mrei.·. als richtig angenommenen oder selbst aufgestellten
Geschichte der Freimaurerei mit Ende des 16. und zu Anfang des 17.
Jahrhunderts auch "gelehrte Laien" den gewöhnlichen "Steinmetzen" in
Bauhütten oder Logen-Verbindungen angeschlossen haben? (Vielleicht
wegen der angenehmen Unterhaltung oder des tieferen Wissens dieser
Handwerker, die zum grössten Teil weder lesen noch schreiben konnten,
oder der feinen Lebensgewohnheiten derselben?)
Wir aber leiten unsere maur.·. Herkunft nicht von den "Steinmetzen" ab,
sondern zunächst von den Culdeer Mönchen (Cultores Dei), welche eine
"Wahrheits-Religion" hatten und die die praktische Seite derselben in
die bekannte Symbolik hüllten.
Des ferneren aber und im allgemeinen leiten wir unsere maur.·. Herkunft
von den alten Maurern und Baumeistern am unsichtbaren Tempel des
A.·.B.·.A.·.W.·. [ab], die schon 6000 Jahre vor Christi Geburt in
Aegypten einen Ewigen, Einzigen, Unsichtbaren Gott und Schöpfer alles
Geschaffenen sichtbare Tempel bauten, Loblieder sangen und in seinem
Namen Leiden linderten. Das Geheimnis dieser ältesten bekannten Maurer
an einem unsichtbaren Tempel des A.·.B.·.A.·.W.·. bewahren wir in
unseren Hochgraden und hüllen es gleich ihnen und gleich den Culdeern,
unseren näheren Vorfahren, in eine Symbolik. Nur der "Berufene" findet
dieses Geheimnis.
Unseren Brr.·. ist daher ans Herz zu legen, dass wir keinen Br.·., der
sich zur Beförderung in die Hochgrade meldet, garantieren können, dass
er das "Geheimnis" auch wirklich finden wird.
Wir werden den suchenden Br.·. den Weg führen, auf dem er es finden
kann, ob er es finden, liegt aber allein bei ihm und hängt nicht von
uns ab.
Als Hilfsmittel für unsere Brr.·., um ungeeignete Suchende von
vornherein auszuschliessen und so unseren Orden nach Möglichkeit vor
Nackenschlägen durch unbefriedigt bleibende Brr.·. zu bewahren, ist
von jedem suchenden Br.·. ein Fragebogen auszufüllen, der u.a. folgende
Fragen enthält:
- Welche Motive haben Sie bewogen, sich in den Bund der Freimaurer
aufnehmen zu lassen?
- Haben Sie gefunden, was Sie suchten? Und fühlen Sie sich zufrieden
im Mr.·.-Bunde?
- Was ist Ihre Lieblings-Lektüre?
- Was ist Ihre Lieblings-Farbe?
- Was ist Ihre Lieblings-Musik?
- Welcher Religion gehören Sie an? Aus Ueberzeugung oder nur
äusserlich?
Auf diese Art allein ist es einigermassen möglich, uns vor Schaden zu
bewahren und zu verhüten, dass ungeeignete Suchende in die Hochgrade
eindringen. Jedem Aufgenommenen ist aber ein "Führer" für den
praktischen Unterricht zu bestellen.
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