Carl Kellner und Theodor Reuss: Das Geheimnis der Hochgrade
unseres Ordens.Ein Manifesto des Gross-Orients. Berlin,
Juni 1903
Es ist leider eine feststehende Thatsache [sic], dass meistens die anfänglich
eifrigsten Lodgen-Brüder nach einiger Zeit den grössten Prozentsatz zu
der Zahl der Enttäuschten und Unzufriedenen in der Freimaurerei
stellen. Diese Heisshungrigen, Wissensdurstigen, diese "stürmenden
Forscher" durchfliegen sozusagen alle Grade, um an den "Urquell des
Geheimnisses" zu gelangen. Mancher unbefriedigt gebliebene, übereifrige
Bruder versteigt sich vielleicht sogar dazu, die Herausgabe des
"Geheimnisss" zu fordern, und wenn ihm nicht mit einem Geheimnisse
gedient wird, das dem Bilde entspricht, das er sich von der Natur
dieses Geheimnisses gemacht hat, so ergeht er sich in Beschuldigungen,
dass ihm Steine statt Brot geboten werden, dass die Freimaurerei sich
in eine Geheimnisthuerei hülle, um ein "Nichts" zu verbergen,
u.s.w.!
Solche Brr. gab es zu allen Zeiten, und man wird solche Brr. vergeblich
auf die Lehren hinweisen, welche z.B. in Kernings (Br.·.Krebs)
Schriften für Freimaurer enthalten sind. Sie lesen diese Schriften, sie
lesen die Worte, aber der Geist, der tiefere innere Sinn derselben
bleibt ihnen fremd und verschlossen.
Da auch unser Orden vielleicht irgendwo solche Brr. zu seinen
Mitgliedern zählt, so wollen wir zu Nutz und Frommen derselben und zur
Information der deutschen Brr. überhaupt hier eine öffentliche
Erklärung darüber abgeben, welcher Art das Geheimnis der Hochgrade
unseres Ordens ist.
Bei der Aufnahme eines suchenden Kandidaten sagt der Mstr. v. St. zum
Kandidaten:"Das Geheimnis der Freimaurerei kann nicht
gegeben, noch genommen, noch verraten werden, es wächst und lebt in des
einzelnen Menschenbrust, das ganze Leben desselben regulierend,
stärkend und verschönigend."
Es wird also hier, bevor ein Kandidat zum Eid zugelassen wird,
demselben ganz genau gesagt, welcher Art das Geheimnis der Freimaurerei
ist, und kein Suchender kann späterhin die Freimaurerei als solche oder
irgend eine maur.·. Körperschaft im besonderen dafür verantwortlich
machen, wenn er das maur.·. Geheimnis im Laufe seines maur.·. Lebens
nicht findet. Dieser Satz kann allerdings auch eine bequeme
Rückendeckung bilden für alle maur.·. Systeme oder Körperschaften, die
es sich mit der Ausübung von Werken der Barmherzigkeit und der
Nächstenliebe und vielleicht noch mit dem Studium der Geschichte und
Ordenslegenden bengügen lassen.
Unser Orden begnügt sich nun nicht damit, dem Kandidaten gesagt zu
haben: das Geheimnis der Freimaurerei kann nicht gegeben, noch genommen
werden, sondern er sucht den Kandidaten durch die Grade hindurch zum
"Finden des Weges zum Geheimnis" anzuleiten und schliesslich zum
"Beschreiten des Weges zum Geheimnis" geschickt zu machen. Das
Geheimnis selbst zu erreichen und zu gewinnen, dabei kann keine
ausserhalb des Suchenden stehende und lebende Kraft oder Macht oder
Weisheit dem Suchenden helfen. Das kann nur die Kraft, die im Innern
des Suchenden selbst lebt, und die ihn führen muss.
Das Geheimnis, das unser Orden in seinem höchsten Grade besitzt, besteht
darin, dass er dem gehörig vorbereiteten Br. die praktischen Mittel
liefert, den wahren Tempel Salomos im Menschen aufzurichten, das
"verlorene Wort" wiederzufinden, das heisst, dass unser Orden dem
Eingeweihten und auserwählten Br. die praktischen Mittel liefert, die
ihn in den Stand setzen, sich schon in diesem irdischen Leben Beweise
seiner Unsterblichkeit zu verschaffen.
Diese praktischen Mittel sind aber keine "Geisterbeschwörungen" oder
andere "spiritistische Praktiken", sondern es sind Mittel, die sich nur
mit der inneren Stimme des Kandidaten selbst beschäftigen und die alle
spiritistischen Praktiken direkt und strengstens ausschliessen und
verdammen.
Dieses Geheimnis ist das wahre maur.·. Geheimnis unseres Ordens, und
eben ausschliesslich das Geheimnis der Hochgrade unseres Ordens. Es ist
auf unseren Orden durch mündliche Überlieferung von den Vätern aller
wahren Frmrei. den "Weisen Männern des Ostens" überkommen und wird auch
von uns nur wieder mündlich weitergegeben. Selbstverständlich hängt
aber der Erfolg dieses praktischen Unterrichts zur Erlangung des
Geheimnisses wiederum ganz vom Kandidaten selbst ab.
Denn was nützt es, einem Schüler, der schwimmen lernen will, die
besten, erprobtesten und ausführlichsten Anleitungen zum schwimmen zu
geben, wenn er, einmal ins Wasser gelegt, nicht selbst Hände und Füsse
bewegt. Oder was nützt es, einem Malschüler die umfangreichste
Anleitung zum malen zu geben und ihm die feurigsten Farbentöne
vorzumalen, wenn er nicht selbst den Pinsel in die Hand nimmt und
selbst die Mischung der Farben zu erzielen sucht, wird er nie ein
Künstler werden.
Diejenigen Brr., welche nun dieses Geheimnis gefunden hatten, bewahrten
es als ein köstliches, selbsterrungenes Eigentum, und um von den
Alltagsmenschen nicht verkannt oder gar verspottet zu werden, verbargen
sie es unter Symbolen, so, wie wir das heute noch thun.
Diese Symbole sind nun keine willkürlich gewählten Bilder und beruhen
nicht auf irgend einem Zufall, sondern sie sind begründet in den
Eigenschaften Gottes und des Menschen, und wir müssen sie als Urbilder
betrachten. Wir werden aber nie die Form, das Gefäss, das Ritual, die
Symbole für den Inhalt nehmen, sondern in der Form den geistigen Inhalt
suchen, und nachdem wir denselben gefunden und in uns aufgenommen
haben, aus dem geistigen Inhalt die absolute Notwendigkeit der Form,
des Rituals, der Symbolik erkennen.
Unsere Hochgrade geben daher dem Br. die Möglichkeit, einen sicheren
Beweis für die Unsterblichkeit des Menschen zu erlangen, das ist und
war die grosse Sehnsucht des Menschen, seitdem denkende Menschen
existieren. Der Mensch bedarf dieser Ueberzeugung von seinem Fortleben
nach dem Tode, um in diesem Leben wahrhaft glücklich sein zu können. Es
haben daher auch die Mysterien aller Religionen und Weisheitsschulen
sich mit dieser Frage als ihrer höchsten und vornehmsten Aufgabe
beschäftigt. Das Kirchentum beschäftigt sich naturgemäss auch mit der
Lösung dieser Frage "vom verlorenen Wort", i.e. dem "verlorenen ewigen
Leben", sie verweist den Suchenden aber immer auf den Weg der Gnade und
stellt es stets als ein Geschenk und nicht als etwas
Selbstzuerwerbendes oder Erworbenes hin. Unser Orden stellt es jedoch
in die Möglichkeit eines jeden einzelnen Suchenden, mittelst
praktischer Mittel sich mit dem Weltbewusstsein, der Ur-Schöpferkraft,
bewusst und selbst gewollt schon in diesem Leben zu vereinen.
Kellner / Reuss
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